Das souveräne Zeichen

Ich schrieb vor dem Rigorosum, dass ich bei der Prüfung über die Frage reden wollte, wo K. K. und P. A. herstammen? Am 21. Dezember bemerkte ich dann, wie viel mir zum geschichtlichen Kontext einfiel, in den Peter Altenberg eingebettet ist, während ich bei der genealogischen Linie von Karl Kraus ins Stottern geriet. P. A. ist ein bockiges Kind der Disziplinargesellschaft des 19. Jahrhunderts, das wie die Filme der Brüder Lumière das Leben aus dem Lebendigen greift: La vie prise sur le vif! K. K. hingegen führt den Leser auf die Souveränitätsgesellschaft des 18. Jahrhunderts zurück, das Zeitalter der Aufklärung, das sich um die Repräsentation drehte. Zu Michel Foucaults Begriff der Disziplin habe ich bereits Stellung genommen. Aber was ist eigentlich mit Souveränität gemeint?

Stadtplan von London um 1730 | Quelle: Peter Ackroyd: London. Die Biographie. München 2002, S. 386

Stadtplan von London um 1730 | Quelle: Peter Ackroyd: London. Die Biographie. München 2002, S. 386

Bei dieser Periodisierung handelt es sich um eine »fouleuzianische« Idee. Die Wende von Souveränität zu Disziplin um 1800 wird in mehreren Büchern von Foucault beschrieben, aber erst posthum von Gilles Deleuze als tragendes Konzept benannt. Im Anhang von Foucault (1986) unterscheidet Deleuze die historischen Formationen der Klassik, des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart: die unendliche Entfaltung (Gott), die endliche Faltung (Mensch) und die unbegrenzt-endliche Überfaltung (Übermensch). [1] Das Heute stehe, wie es in einem Aufsatz von 1990 heißt, im Zeichen der Kontrolle, die im Begriff sei, die Disziplin abzulösen. Denn die Anormalen werden nicht mehr eingeschlossen, sondern ihr Verhalten gelenkt, die Kommunikationsprozesse nicht mehr verboten, sondern befördert und gesteuert. Über die Ziele der früheren »Souveränitätsgesellschaften«, die mit mechanischen Maschinen umgingen, vermerkt Deleuze: »abschöpfen eher als die Produktion organisieren, über Leben und Tod entscheiden eher als das Leben verwalten«. [2]

Druckerpresse aus dem 18. Jahrhundert | Quelle: Utah Education Network

Druckerpresse aus dem 18. Jahrhundert | Quelle: Utah Education Network

Foucault untersuchte die historische Abfolge dieser Praxen, die Machtverhältnisse zu organisieren, in seinen Studien der 1970er Jahre. Die zeitliche Gliederung ist aber schon in Die Ordnung der Dinge (1966) angelegt, wo sich die Wissensform der Repräsentation von etwa 1650 bis um 1800 erstreckt. [3] Waren die Zeichen in der Renaissance nach dem Prinzip der Ähnlichkeit geregelt, zum Beispiel in der Analogie von Walnuss und Gehirn, so nahmen sie im Barock einen arbiträren Charakter an. Denn der Zusammenhang von Wörtern und Dingen wurde nun konventionell festgelegt: Für eine Repräsentationsbeziehung, die auf der Vorstellungskraft gründet, trägt das erkennende Subjekt die Verantwortung. Souverän sind die sprachlichen Zeichen dieser Episteme insofern, als sie, befreit von der Ähnlichkeit, grundsätzlich alles bezeichnen können.

The Art and Mystery of Printing Emblematically Displayed (1732) | Quelle: The British Museum

The Art and Mystery of Printing Emblematically Displayed (1732) | Quelle: The British Museum

Politisch gesehen, ist es im klassischen Zeitalter der Souverän, also der König oder Kaiser, um den sich die Repräsentation ordnet. Er bildet das Zentrum der Macht, von ihm geht das Recht aus. Wie Foucault in Überwachen und Strafen (1975) schreibt, greift das Verbrechen den Souverän, dessen Wille Gesetz ist, persönlich an. Die theatralische Marterstrafe entspricht dem königlichen Recht, Krieg gegen die Feinde zu führen. Bei der Hinrichtung ist der Souverän als die Macht gegenwärtig, die zu rächen und zu begnadigen vermag. »Der Königsmörder«, stellt Foucault fest, »ist nicht mehr und nicht weniger als der totale und absolute Verbrecher, weil er nicht, wie irgendein Übeltäter, eine besondere Entscheidung der souveränen Macht angreift, sondern deren Prinzip in der physischen Person des Fürsten.« [4]

The Grub Street Macaroni (1772) | Quelle: The British Museum

The Grub Street Macaroni (1772) | Quelle: The British Museum

Im letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen (1976) tritt dem Recht des Monarchen, über den Tod zu entscheiden, jene Macht zum Leben gegenüber, die auf das Ancien Régime zurückgeht und sich im 19. Jahrhundert zweiförmig durchsetzt – als Disziplinierung der Körper und als Regulierung der Bevölkerung. [5] Eine Biomacht, die nicht von einem Zentrum ausstrahlt, sich vielmehr als Netzwerk verbreitet, in dem Handlungen auf Handlungen einwirken. Widerstand regt sich, sei es bei Nietzsche oder Altenberg, über die Faltung der Disziplinartechniken: Die Reizkontrolle dient nicht der Mäßigung, sondern der Steigerung des Lebens, das wie ein Kunstwerk gestaltet wird. Körperliche Lüste entwickeln sich zu emotionalen Begehren, die Menschen, Tiere, Sachen verketten.

Members of a Newspaper Club (1800) | Quelle: ARTstor

Members of a Newspaper Club (1800) | Quelle: ARTstor

Für Kraus ist das Subjekt hingegen eine autonome Einheit. Seine Vorstellungskraft verbindet die Wörter mit den Dingen, findet die treffenden Begriffe für die mannigfaltigen Sinnesdaten. Der Souverän ist kein Despot, sondern ein vernünftiger Führer, der ein geregeltes Zusammenleben verbürgt und also sagen kann: »räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!« [6] Wer viel räsonieren und wenig gehorchen will, gründet eine Zeitschrift und wird hauptberuflicher Publizist. Die gedruckten Essays stellen dann Experimente der Repräsentation dar, öffentliche Versuche, die Welt souverän zu bezeichnen.


[1] Vgl. Gilles Deleuze: Foucault. Übers. v. Hermann Kocyba. Frankfurt a. M. 1992 [1986], S. 175–189.

[2] Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. In: Gilles Deleuze: Unterhandlungen. 1972–1990. Übers. v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 1993 [1990], S. 254–262, hier: S. 254.

[3] Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974 [1966], S. 78–113.

[4] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1994 [1975], S. 71.

[5] Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1983 [1976], S. 129–153.

[6] Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. In: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1996 (= Werkausgabe, Bd. XI), S. 53–61, hier: S. 61.

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